Erzählperspektive

What a character perceives: Point of View.

Der Ausdruck Erzählperspektive wird beim Storytelling für unterschiedliche Positionen verwendet. Wir differenzieren hier vier Definitionen:

  • Die übergeordnete Perspektive, aus der die Geschichte erzählt ist
  • Die jeweilige Szenenansicht
  • Die Perspektive bei der Erzähler*in
  • Die persönliche Sichtweise, der Blickwinkel des Autors

Übergeordnete Perspektive

Eine Geschichte kann, aber muss nicht aus der Sicht einer Hauptfigur geschildert werden, die Art und Weise der Reflektion kann vom Autor ganz nach Wunsch und Intention gestaltet werden.

Die gesamte Star-Wars-Saga ist aus der Perspektive zweier Nebenfiguren erzählt, die zwar nicht in jeder Szene auftauchen, aber grundsätzlich den Handlungsverlauf begleiten: die beiden Roboter C-3PO und R2-D2.
Diesen Kniff, Geschichten aus der Sicht der scheinbar „unwichtigsten“ Figuren erzählen zu lassen, hat George Lucas aus Akira Kurosawas Die verborgene Festung übernommen, einer Geschichte über Generäle und Prinzessinnen, erzählt aus der Warte zweier Gauner, die zwar in das Geschehen involviert sind, jedoch wenig von dem begreifen, was da vor sich geht – im Gegensatz zum Leser/Zuschauer.

Man stelle sich vor, wie die Geschichte von Hamlet sich aus der Sicht der Verlierer anfühlt: Rosencrantz und Guildenstern. Genau das hat Tom Stoppard in seinem Stück und in dem späteren Film Rosenkranz und Güldenstern [sind tot] gemacht. Seine originelle und ironische Umsetzung einer bekannten Story zeigt, wie entscheidend die Wahl der Perspektive für das Verständnis der Geschichte sein kann – für die Figuren selbst und auch für das Publikum. Die Sicht der Dinge kann die „Wahrheit“ einer Geschichte bestimmen, ein Thema, mit dem Akira Kurosawa bereits in seinem früheren Film Rashomon – Das Lustwäldchen experimentiert hatte.

Szenen-Einzelansicht

Die Erzählperspektive bezieht sich also auf die Art und Weise, wie eine Szene bzw. ein Handlungsereignis dem Publikum präsentiert wird. Beim Film kann das noch enger gefasst werden auf die Einstellung der Kamera.

Sehen die Zuschauer was eine bestimmte Figur sieht? Am Ende von Das Schweigen der Lämmer beobachten wir, wie die Hauptfigur wörtlich im Dunkeln tappt aus Sicht ihres Feindes, der ein Nachtsichtgerät trägt. Die Einstellung ist explizit durch so ein Gerät. Aber es muss nicht ganz so offensichtlich sein. Üblich ist die Technik, wo wir zunächst eine Figur sehen (sagen wir Cary Grant steht in Der Unsichtbare Dritte am Straßenrand), und dann Schnitt. In der nächste Einstellung sehen wir was die Figur sieht (im Beispiel, eine riesige leere Landschaft, einige Maisfelder, in der weiten Entfernung ein klitzekleines Flugzeug). Als Zuschauer wird uns die Stimmung der Figur nähergebracht indem wir sehen, was sie sieht.

In jedem Medium ist das Verständnis des Publikums vom Geschehen meist verbunden mit einer Figur, die das erlebt. Im Geschriebenen hat die Erzählperspektive auch viel mit dem Erzähler, der Erzählerin zu tun. Selbst bei einer allwissenden, auktorialen Erzählerin erfahren Leser*innen in aller Regel den Informationsgehalt eines Handlungsereignisses durch den Blickwickel einer Figur, die daran beteiligt ist.

Hier ein einfacher Test. Wir als Publikum wissen, dass mehrere Figuren in einem Raum versammelt sind. Eine Figur steht beim Fenster und blickt nach draußen. Ein Auto ist vorm Haus vorgefahren. Nur die Figur beim Fenster kann das wissen. Wissen wir als Publikum das auch? Dann ist die Figur beim Fenster die so genannte Point of View Character, weil wir zeitgleich mit ihr die Information über das Auto erhalten haben.

Erzählperspektive bezieht sich auf die Figur, um die es geht bei einer Szene. Das muss nicht immer deutlich sein. Lesen wir über eine Tafel an dem viele Menschen zu Abend essen – das grundsätzliche Gefühl, das uns vermittelt wird hat wahrscheinlich mit der Art und Weise zu tun wie eine Figur am Tisch das Abendmahl wahrnimmt.

Handlungsereignisse geschehen also nicht in einem neutralen Raum. Was passiert hat für gewöhnlich emotionale Auswirkungen auf das Publikum weil es für eine oder mehrere Figuren emotionale Auswirkungen hat. Das Gespräch am Tisch hat eine andere Bedeutung wenn die Szene vom Mistrauen des Vaters handelt gegenüber dem neuen Freund seiner Tochter als wenn die Szene von einem jungen Mann handelt, der zum ersten Mal die Familie seiner Verlobten kennenlernt. Die Perspektive des Vaters ist eine ganz andere als die des jungen Mannes. Fast würden andere Geschichten erzählt werden je nachdem wem wir als Hauptfigur verstehen. Die Erzählperspektive bestimmt also fast die Story.

Unser Verständnis ist also geprägt durch die emotionale Verbindung die wir verspüren mit der Hauptfigur einer Szene. Werden die Ereignisse neutral erzählt ohne Verbindung zu einer Figur ist es unwahrscheinlich, dass die Leser*innen emotional mitgerissen werden. Für Autor*innen ist also Erzählperspektive eines der wichtigsten Mittel in der Trickkiste des Fabulierens.

Der Standpunkt des Erzählers

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass normalerweise jede Szene oder jedes Ereignis aus der Sicht einer der Figuren erzählt wird, selbst wenn es eine Erzähler*in gibt, die eventuell an der Handlung teilnimmt oder auch nicht. Wenn diese Erzähler*in die Handlung nicht aus der Sicht einer der Figuren erzählt, die an der Handlung beteiligt sind, dann vertritt die Erzähler*in wahrscheinlich eine eigene Sichtweise. Streng genommen wird die Erzähler*in dadurch zu einer eigenständigen Figur.

Die Erzähler*in hat einen großen Einfluss darauf, wie die Leser*innen die Geschichte aufnehmen. Die Erzähler*in mag eine Absicht verfolgen, kann versuchen, einen Standpunkt, eine Moral oder eine Botschaft zu vermitteln, etwas zu beweisen, sich selbst zu rechtfertigen usw. In diesem Fall will die Erzähler*in etwas, hat vielleicht ein Ziel, braucht vielleicht etwas – all das sollte den Leser*innen im Verlauf der Geschichte bewusst werden.

Daher sollte die Autor*in die Beweggründe ihrer Erzähler*in genauso sorgfältig bedenken wie die jeder anderen Figur.

Darüber hinaus ist es für Autor*innen möglich, mit der Perspektive besondere Effekte zu erzielen. Hier echte Beispiele aus erfolgreichen Romanen:

  • das Paar Stiefel einer Figur erzählt die Geschichte
  • eine Farbe erzählt die Geschichte
  • ein Wurm erzählt die Geschichte (obwohl die Leser*in das erst am Ende erfährt)

Ein solches Konzept kann fesselnd und wirkungsvoll sein. Für die Autor*in bedeutet das wiederum, dass sie die Erzähler*in als eine Figur betrachten muss. Was will diese Erzähler*in? Hat diese Erzähler*in ein inneres Problem, das gelöst werden muss, eine Art Manko oder Schwäche? Und so weiter.

Des Autors Attitüde oder Ansicht

Zu guter Letzt: Manche Leute verwenden den Begriff Erzählperspektive, wenn sie sich auf den jeweiligen Standpunkt beziehen, der im Subtext der Erzählung durchkommt. Ein bestimmter Tenor ist bereits im Genre angelegt: In einem Thriller ist typischerweise ein eher pessimistischer Grundton bestimmend, in einer Romanze oder Komödie trägt das positive Grundgefühl bzw. der Optimismus durch die Geschichte. Darüber hinaus kann die Grundeinstellung, bestimmte Vorstellungen oder Ideen des Autors durchschimmern – mehr oder minder explizit. Hier entscheidet sich für den Leser/Zuschauer, ob er sich auf den Tenor der Erzählung einlässt – aus Sympathie oder Neugierde.

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