Wahrnehmung

Warped perceptions can be interesting story material

Wie aufmerksam eine Figur ihre Umgebung wahrnimmt, kann dramaturgische Bedeutung haben.

Eine Figur, die gut darin ist, kleine Details zu bemerken, könnte einen guten Spion oder Detektiv abgeben; wenn Sie also einen Detektiv oder Spion entwickeln, sollten Sie überlegen, Ihrer Figur diese Fähigkeit zu geben. Aber ganz gleich, welchen Beruf Ihre Figur ausübt, halten Sie mindestens einmal pro Szene inne und fragen Sie sich: Was ist ein Detail, das nur dieser Figur auffallen würde? Ihre Wahrnehmungen können Figuren interessanter und lebendiger erscheinen lassen.

Wenn ein gewisses Handlungsereignis davon abhängt, dass eine Figur ein bestimmtes kleines Detail wahrnimmt, kann es sinnvoll sein, lange vor der Szene eine Vorahnung zu platzieren, um die Wirkung der Wahrnehmung zu verstärken.

Außerdem kann die Wahrnehmung einer Figur beeinflussen, wie Ihr Publikum die gesamte Geschichte begreift und sie genießt. Wie genau, hängt von zwei wichtigen Faktoren ab:

Nimmt die Erzähler*in (auch in der dritten Person) das Geschehen wahr und kommentiert und interpretiert es? Dann ist die Erzähler*in tatsächlich eine Figur in der Geschichte, die ihre eigenen Ziele und Beweggründe hat. Die Art, wie die Erzähler*in über die Ereignisse berichtet und kommentiert, hat einen großen Einfluss darauf, wie das Publikum die Geschichte erlebt. Im Allgemeinen erfassen und schildern Erzähler*innen recht aufmerksam die Geschehnisse. Meinungsstarke Erzähler*innen neigen dazu, ihre Sicht des Geschehens darzulegen und das Publikum so zu manipulieren, dass es die Ereignisse auf einer bestimmten Art und Weise versteht. Ob wir dem Erzähler nun glauben oder nicht, der Reiz liegt in der Ausdrucksweise dieser Figur.

Ist die Erzähler*in in die Wahrnehmungen einer Figur oder aller Figuren in der Szene eingeweiht? Es mag heutzutage ein wenig altmodisch erscheinen, der Hauptfigur nicht so nahe zu sein, dass man nicht weiß, was sie sieht, hört, fühlt und denkt. Der Trend in der modernen Belletristik geht dahin, die Persönlichkeit des allwissenden Erzählers in den Hintergrund treten zu lassen und das Publikum in die Köpfe der Hauptfiguren zu versetzen. Wie eine Figur auf Ereignisse reagiert, was sie darüber denkt, wie sie sie interpretiert, wird so zu einem noch wichtigeren Bestandteil der Wahrnehmung der Geschichte seitens des Publikums.

Das bedeutet, dass die einzigartige Art und Weise, wie eine Figur die Welt sieht, ein intimer Teil der Geschichte selbst ist. Und eine verzerrte Sichtweise der Welt kann interessantes Material für eine Geschichte liefern. Durch die Wahrnehmung der Figur gewinnt das Publikum Verständnis für die Figur und bestenfalls eine emotionale Bindung zu ihr und der Geschichte. Daher lohnt es sich für Autor*innen, darauf zu achten, wie die Geschichte anhand der Wahrnehmungen einer Figur erzählt werden kann.

Umgekehrt kann auch das, was die Figur gerade nicht wahrnimmt, eine wichtige Rolle spielen. Gibt es einen offensichtlichen blinden Fleck, den die Figur übersehen hat oder den sie nicht wahrhaben will? Das kann vielsagend sein. Gibt es etwas Verborgenes, das die Figur so sehr fürchtet, dass sie sich weigert, es zu sehen? Die Frage für die Autor*in lautet in so einem Fall: Wie kann man das Publikum dazu bringen, zu erkennen, was die Figur nicht erkennt?

Point-of-View-Figuren (Figuren, durch deren Brille wir die Geschichte erleben) und Ich-Erzähler kommentieren die Handlung der Erzählung. Durch das Erleben emotional beunruhigender oder aufwühlender Ereignisse und die Möglichkeit, diese zu artikulieren und darüber hinaus darüber zu reflektieren, wird das Publikum von einer Reiseleiter*in aus erster Hand auf eine emotionale Reise durch die Geschichte geführt – nah, direkt und mit der einzigartigen und aussagekräftigen Stimme der Figur, die die Geschichte erlebt, wiedergegeben. Was würde das Publikum wissen und fühlen ohne den Wahrnehmungsbericht dieses Lotsen?

Die Wahrnehmungen der Figuren können die Stimmung oder Atmosphäre einer Szene stark beeinflussen. Je persönlicher die Erzählweise, je näher wir an den Wahrnehmungen der Figuren sind, desto subjektiver wird die Erzählung der Geschichte. Das ist gut so, denn Subjektivität ist wahrscheinlich eindringlicher als Objektivität.

Die PoV-Figur oder die Erzähler*in muss nicht unbedingt besonders intelligent sein, damit das Publikum alles versteht. In Schall und Wahn von William Faulkner fehlen der Ich-Erzähler-Figur Benjy die nötigen Worte, um das, was er sieht, so zu beschreiben, dass das Publikum es direkt erfassen kann. Doch schließlich kommt das Publikum doch dahinter und versteht umso mehr.

Wahrnehmungen der Figuren können also umfassen:

  • aufschlussreiche und überraschende Beobachtungen von Details,
  • das Nachdenken über und die Interpretation von Ereignissen,
  • das Nachdenken über innere Gefühle und damit letztlich über die sich verändernde Selbstwahrnehmung, denn das Erlangen von Selbsterkenntnis ist der emotionale Kern vieler Geschichten.

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