Risiko

Was geht es mich an?

Du bist auf einem Boot und siehst jemanden ins Wasser fallen. Bei welchem der beiden folgenden Fälle würdest du stärker emotional reagieren?

  1. Das Wasser ist vier Fuß tief und du weißt, dass der Kerl, der reinfiel, ein guter Schwimmer ist.
  2. Das Wasser ist vier Fuß tief und die Person, die reinfiel, ist ein dreijähriges Mädchen, das nicht schwimmen kann.

Vermutlich wäre deine emotionale Reaktion stärker, wenn das Mädchen vom Boot fiele, da du weißt, dass das Leben des Kindes auf dem Spiel steht. Die erste Situation ist nicht lebensbedrohlich und das einzige, was hierbei passieren könnte, ist, dass die Kleidung des Mannes nass wird und womöglich sein Selbstwertgefühl leidet.

Wie hoch das Risiko bestimmter Ereignisse für andere oder auch für dich selbst ist hat maßgeblich mit dem Ausmaß deines Mitgefühls oder deiner Besorgnis zu tun. Das gilt ebenso für fiktive Figuren wie in der realen Welt.

Daher ist es für Autoren ungeheuer wichtig, dem Leser/Zuschauer zu vermitteln, wie bedrohlich die Situationen sind, welchen die Figuren ausgesetzt sind. Der Rezipient muss wissen, was dabei für die Figuren jeweils auf dem Spiel steht. Was haben sie zu verlieren? Ihr Leben? Ihre Seele? Ihr Handy?

An der Schraube drehen

Die Gefahr für Leib und Leben kann von Anfang an deutlich sein, wenn die Probleme dargestellt sind. Alternativ kann das Ausmaß der Bedrohung zunehmen oder spezifischer werden, wenn die Geschichte fortschreitet. Auf eine unmittelbare Gefahr wird der Leser/Zuschauer eher emotional reagieren.

Es darf jedoch nicht passieren, dass das Risiko, die Bedrohung oder die Gefahr im Verlauf der Geschichte abnimmt. Es geht darum, die Schraube fester anzuziehen: Zuerst ist die Sorge oder das Leid nicht so stark, aber mit jedem Stadium der Reise werden diese Gefühle intensiver, für die Figur und somit auch für den Leser/Zuschauer.

Daher gerät in vielen Geschichten, vor allem in Thrillern, die Familie des Protagonisten in Gefahr, in der Regel durch einen bösen Antagonisten. Der Protagonist hat bereits sein Leben riskiert, wie also soll der Autor die Situation noch mehr verschärfen? Die Angst um den Lebenspartner oder das Kind ist eine stärkere Emotion als die um das eigene Wohl und somit ist die Bedrohung der Familie ein effektives Mittel, um die Erregung zu steigern.

Angst als Instinkt

Solche Reaktionen sind in uns als Primäraffekte oder Basisemotionen angelegt. Bestimmte Themen treten wiederholt in Geschichten auf, da sie Bestandteil menschlicher Existenz sind, wie etwa das Überleben (die Notwendigkeit von Nahrung und Unterkunft sowie Schutz vor Lebensbedrohung), die Fortpflanzung (der Erhalt der Spezies) oder die Gemeinschaft (Schutz der Familie oder des Zuhauses, bzw. der Heimat).
Doch das Risiko muss nicht so universell sein wie Leben und Tod. So kann dies auch ein Wert sein, ein gesellschaftlicher oder individueller, wie z. B. die Ehre oder Reputation. Der Verlust der Ehre ist in patriarchalischen Gesellschaften gleichbedeutend mit gesellschaftlichem Ausschluss und kann für eine Figur in solch einem Umfeld existenzbedrohend sein.
Ein beschädigter Ruf hingegen kann sich zum einen nachteilig auf die Geschäftstätigkeit auswirken, zum anderen die persönliche Eitelkeit treffen, was zuweilen im individuellen Bewusstsein einer Figur so starke Auswirkungen haben kann, dass sich ihr Verhalten dadurch verändert – in dem Fall ist es nicht das Umfeld, das den Druck ausübt, sondern das interne Problem der Figur (wie bei Torvald in Ibsens Stück Nora oder Ein Puppenheim). Doch auch ein potenziell verletztes Ego kann ein Risiko darstellen, etwa wenn in einem Abhängigkeitsverhältnis Konflikte gemieden werden, um eine Figur nicht zu reizen.

Risiko aufladen

Das, was dabei auf dem Spiel steht, den persönlichen Einsatz der Figur, muss der Autor also im Kontext verdeutlichen, indem er diesen relativ früh in der Geschichte mit Bedeutung auflädt. Auch wenn der potenzielle Verlust für den Leser/Zuschauer selbst keine hohe Relevanz hat, er diesem persönlich also keine derartige Bedeutung beimisst oder sich eben darüber nicht beunruhigen würde, so hilft es doch, die Motivation des Charakters zu verstehen, wenn der Autor die Grundeinstellung der Figur deutlich macht.

Mit anderen Worten, das Risiko muss keine physische Bedrohung sein, sondern kann auch das Äquivalent zum emotionalen oder geistigen Tod bedeuten. Es geht also darum, wie wichtig eine Person, ein Gegenstand oder eine Qualität der Figur sind und wie viel Emotion sie darein investiert. Wenn dies in der Geschichte herauskommt, kann der Leser/Zuschauer mit Empathie darauf reagieren.

Wenn die Figur ein wertvolles Gut besitzt, also etwas, das sie besonders wertschätzt bzw. woran sie sehr hängt, das es zu bewahren oder zu behüten gilt – ein liebgewonnener Gegenstand (Linus‘ Schmusedecke), ein symbolträchtiges Familienerbstück, ein Schutzbefohlener oder auch eine Gabe (Zauberkraft) – dann kann der Verlust dieser Kostbarkeit schlimme Konsequenzen nach sich ziehen und stellt somit das Risiko dar. Der McGuffin kann diese Funktion haben.

Eine Figur mag sich dessen noch nicht einmal unbedingt bewusst sein, was auf dem Spiel steht. Doch der Leser/Zuschauer muss es wissen. Denn warum sonst sollte er sich bekümmern?

4_extern_Risiko
Je größer das Risiko für die Figur, desto stärker die emotionale Reaktion der Zuschauer bzw. Leser

FOLGE UNS!

Abonniere unseren Blog