Die Vorstellung – wie stellt sich die Figur ihr Leben idealerweise vor?

Geschichten werden von Sehnsucht getrieben.

Um etwas zu erreichen, muss es eine aktuelle Position und ein Ziel geben. Geschichten beschreiben grundsätzlich einen Zustandswechsel – die Dinge sind am Ende der Geschichte anders als am Anfang. Daher hat eine Geschichte einen Ausgangs- und einen Endpunkt, eine Auflösung.

Aber das ist nicht genug. Es muss Treibstoff und Energie vorhanden sein, um die Bewegung zwischen der einen und der anderen Position anzutreiben. In Geschichten ist diese treibende Kraft die Motivation der Figuren.

Motivation ist so wichtig für das Erzählen von Geschichten, dass wir uns mit verschiedenen Aspekten befassen werden. Wir zerlegen es in das, was wir die Vorstellung, den Wunsch und das Ziel nennen, die alle miteinander verbunden, aber auch voneinander getrennt sind. Hier in diesem Beitrag werden wir uns um die Vorstellung kümmern.

Eine Vorstellung ist der Figur von Anfang an inhärent – so stellt sich diese Figur einen Idealzustand vor, so möchte sie leben. Wir könnten es einen Charakter-Wunsch nennen, im Gegensatz zu dem Wunsch, der die Handlung antreibt (mit dem wir uns später beschäftigen werden).

Beispiele:

  • Marty McFly möchte Musiker werden. Das wird in der allerersten Szene des Films Zurück In Die Zukunft deutlich, in der er seine E-Gitarre an einen Verstärker anschließt.
  • Luke Skywalker möchte von seinem staubigen Planeten Tatooine wegkommen, um der Akademie beizutreten und Pilot zu werden.

Die Vorstellung ist insofern emotional relevant, als sie dem Publikum hilft, sich auf die Figur einzulassen, was der Empathie mit dieser Figur förderlich ist. Wir verstehen Charaktere besser, wenn uns ihre Sehnsüchte gezeigt werden.


Menschen leben in sozialen Gruppen. Dieses Zusammen-Leben zeitigt bei uns allen bestimmte Vorstellungen davon, die durchaus widersprüchlich sein können. Zum einen verspüren wir den Drang, miteinander auszukommen – oder sogar nach Nähe innerhalb der Gruppe. Zum anderen möchte sich wohl niemand prinzipiell unterordnen und entwickelt daher bewusst oder unbewusst Strategien, um der Dominanz anderer entgegenzuwirken: durch das Streben nach Anerkennung, Status, Dominanz für sich selbst. 

Diese Art des sozialen Machtspiels ist so tief in uns verwurzelt, dass uns selten bewusst ist, wie sehr es unsere Werte und unser Handeln bestimmt. Geschichten spiegeln diesen Sachverhalt wider: Im Regelfall wird kooperatives Verhalten (mit anderen gut zurechtkommen) als positiv für den Einzelnen und die Gruppe dargestellt, während egozentrisches, überdominantes Verhalten Missbilligung erfährt. 


Dramaturgisch gesehen ist es nicht unbedingt notwendig, dass die Hauptfigur eine Vorstellung hat. Viele Geschichten kommen sehr gut ohne zurecht, indem sie den Wunsch als Motivation ausnutzen.

Die Vorstellung in der Erzählstruktur

Es ist wichtig zu verstehen, dass die Vorstellung strukturell relevant ist. Wenn eine Figur eine Vorstellung hat, muss dies dem Publikum so früh wie möglich klar gemacht werden, kurz nachdem die Erzählung die Figur eingeführt hat. Außerdem, wenn eine Figur eine Vorstellung hat, muss die Geschichte zeigen, was mit ihr passiert. Wird die Vorstellung am Ende der Geschichte erfüllt oder nicht?

  • Am Ende von Zurück In Die Zukunft spielt Marty bei einem Konzert Gitarre. Seine Vorstellung ist erfüllt.
  • Am Ende von Star Wars IV – A New Hope ist Luke Skywalker ein heldenhafter Pilot. Er erfüllt seine Vorstellung.
  • Im Western Spiel Mir Das Lied Vom Tod hat der verkrüppelte Eisenbahn-Tycoon Morton Sehnsucht nach dem Meer und will den Bau der Eisenbahn bis zur Westküste durchziehen. Das erfährt das Publikum, indem es ein Bild des Ozeans in Mortons luxuriösen Eisenbahnwagon gezeigt wird. Die Vorstellung wird nicht erfüllt. Wenn er erschossen wird und stirbt, streckt er seine Finger in eine Pfütze und hört in seiner Phantasie das Geräusch der Brandung.

Diese Beispiele verdeutlichen eine der mächtigsten Techniken im Storytelling, das Set-Up/Pay-Off, oder „planting“. Dem Publikum wird ein Stück Wissen vermittelt, dessen Relevanz zu diesem Zeitpunkt nicht nachvollziehbar ist – das ist der Set-Up, also der Aufbau. Später wird dieses Wissen zur Grundlage eines Aha-Effekts, des Pay-offs. Solche Aha-Effekte sind ziemlich genau das, wofür das Publikum Geschichten konsumiert. Sie sorgen für Zufriedenheit, und Geschichten, die sie nicht haben, sind einfach weniger befriedigend.

Darüber hinaus sehen wir aus den obigen Filmbeispielen eine der großen Grundlagen des Geschichtenerzählens im Allgemeinen: Geschichten haben eine Tendenz zur Symmetrie. Ein Set-Up in der ersten Hälfte der Geschichte, wie z.B. die Vorstellung einer Figur, spiegelt sich in der zweiten Hälfte wieder, wenn wir erfahren, ob die Vorstellung erfüllt wird oder nicht.

All dies deutet darauf hin, dass die narrative Struktur mitbestimmt, wie das Publikum auf eine Geschichte reagieren wird. Da dies recht eindeutig der Fall ist, erscheint es merkwürdig, wenn Autoren behaupten, die Handlung zu erfinden oder die Charaktere zu entdecken, während sie schreiben. Würde ein Autor die Erzählstruktur wirklich dem Zufall überlassen?

Der Umriss einer Geschichte – die „Outline“ – ist ihre architektonische Gestaltung. Natürlich kann man die Struktur der Geschichte durch Revision und Umschreiben des Manuskripts in mehreren Fassungen bestimmen und in Form bringen. Andererseits könnte man mehr Zeit und Aufmerksamkeit für den Planungsprozess aufwenden und eine Outline erstellen, die markante Figurenattribute wie z.B. ihre Vorstellungen von Vorhinein einbezieht.

Als nächstes sehen wir uns den Wunsch an.

 

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