Die Werte bzw. die emotionale Haltung einer Figur

Values

Was folgt, ist eine Übung zur Figurenentwicklung. Dabei geht es nicht um größtmögliche Realitätsnähe in der Abbildung der menschlichen Psyche. Vielmehr soll die Differenzierung zwischen der emotionalen Haltung einer Figur und ihrer rationalen Einstellung ein weiteres Mittel aufzeigen, mit dem Autor*innen inneren Konflikt darstellen und Figuren Mehrdimensionalität verleihen.

Eine Figur in einer Geschichte hat Werte und Leidenschaften. Anders ausgedrückt, eine emotionale Haltung. Es ist dieses Bündel von Gefühlen, die aus der Figur einen Charakter machen.

Unter emotionaler Haltung verstehen wir Werte, die letztendlich der Ursprung der Überzeugungen oder des Glaubenssystems der Figur darstellen. Dies ist besonders wichtig, wenn man bedenkt, dass Geschichten oft in Konflikt stehende Wertvorstellungen zeigen, und das Thema der Geschichte eine dieser Wertvorstellungen als vorteilhaft gegenüber der anderen darstellen kann.

Eine bestimmte emotionale Haltung entsteht nicht im Vakuum. Geschichten zeigen Ursache und Wirkung, und die Werte der Charaktere sind da keine Ausnahme. Die emotionale Haltung eines Charakters hat Ursachen. Da es sich um Emotionen handelt, können sie schwer zu lokalisieren sein – und zugleich irgendwie offensichtlich.

Darüber hinaus sind Werte emotional und existieren daher, bevor sie artikuliert werden. Eine Figur wird sich einer Wertvorstellung in Form eines Glaubenssystems bewusst. Die Überzeugungen werden durch die Figur als Überzeugungen artikuliert und sind durch innere Werte bestimmt. In einigen Fällen können die erklärten Überzeugungen tatsächlich in Konflikt mit den tieferen Werten des Charakters stehen, deren sich der Charakter vielleicht nicht ganz bewusst ist. Werte neigen dazu, sich dem Individuum gegenüber richtig zu fühlen, obwohl sie für die Gemeinschaft oder Gesellschaft tatsächlich falsch sein können.

Die Werte einer Figur müssen für das Publikum plausibel sein, was z.B. erreicht werden kann, indem man den Figuren entsprechende soziale Hintergründe oder Ursprünge gibt und diese explizit benennt. In vielen Geschichten wird die Erziehung oder die Herkunft einer Figur erwähnt oder beschrieben, um ihre emotionale Haltung zu erklären.

Alternativ können Werte auch durch bestimmte Ereignisse in der Geschichte einer Figur entstehen, die als Vorgeschichte in der Erzählung vermittelt werden. Ein bestimmter Umstand, möglicherweise ein Trauma, führt dazu, dass die Figur eine bestimmte Art und Weise über das Leben und die Welt empfindet.

Historische Stoffe

In historischen Geschichten ist das zeitliche Setting besonders herausfordernd im Hinblick auf die emotionale Haltung der Charaktere. Viele beliebte historische Romane können zu Recht als anachronistisch bezeichnet werden, da sie Charaktere haben – vor allem weibliche Protagonistinnen – mit Werten und Überzeugungen, die nicht in die Zeit passen. Zum Beispiel: Im Mittelalter war das Aufkommen des Humanismus noch nicht eingetreten. Es gab noch keine Renaissance, keinen Descartes, keinen Kant, keine Französische Revolution und keine amerikanische Verfassung. Wo soll ein Charakter im Mittelalter Ideen, Werte und Überzeugungen herbekommen, die wir heute für selbstverständlich halten? Ideen über unveräußerliche Rechte wie Freiheit und Gleichheit oder Konzepte wie Individualismus. Früher hatten die Menschen andere Werte und Glaubenssysteme als heute, und es ist fast unmöglich, sich in ihre Lage zu versetzen. Historische Fiktion, die sich nicht zumindest implizit mit diesen herausfordernden Fragen beschäftigt, läuft Gefahr, eher klischeehaft und trivial zu wirken.

Was nicht bedeutet, dass triviale historische Geschichten nicht wahnsinnig unterhaltsam sein können, mit starker emotionaler Wirkung aufs Publikum. Es bedeutet einfach, dass eine Autor*in in der Regel eine gewisse Einstellung zu diesem Phänomen hat.

 

Vergleichen Sie nun die emotionale Haltung mit der rationalen Einstellung.


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