Keine Geschichte ohne Vorgeschichte

Kaum eine Geschichte kommt ganz ohne Vorgeschichte aus.

Vorgeschichte, auch Backstory genannt, bezeichnet die Geschehnisse, die vor dem eigentlichen Beginn einer erzählten Geschichte – also vor dem Kick-off-Event, dem auslösenden Ereignis – stattgefunden haben und in direktem Zusammenhang mit der aktuellen Erzählung stehen. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil jeder Geschichte.

Jede Figur hat Vorfahren, eine Vergangenheit, eine eigene Geschichte. Diese Historie hat sie zu dem gemacht, was sie nun sind, bestimmt ihre Handlungen. Diese vorangegangenen Aktionen sind die Quelle der Ereignisse der aktuellen Geschichte und bestimmen diese – zumindest teilweise. Die insofern relevanten Informationen müssen dem Leser/Zuschauer zur Kenntnis gebracht werden, damit er die Geschichte verstehen kann.

Typischerweise liefert die Vorgeschichte die Erklärung für die Ursache einer Wirkung in einer Figur, die das Publikum am Anfang der Erzählung beobachtet: den Mangel der Figur oder ihr internes Problem. Das Publikum wird emotional in eine Geschichte eingebunden, weil es sich in die Charaktere einfühlt. Eine starke Voraussetzung für dieses Gefühl ist es, den Charakter mit einem emotionalen Defizit oder Mangel zu versehen. Dementsprechend muss die Figur eine neue Qualität erlernen, sich entwickeln und verändern. Um zu lernen, muss die Figur zuerst den Fehler oder die Schwäche erkennen, und zwar oft durch das Erkennen der Ursache. In ungeschickten Händen kann dies zu Klischeehaften Szenen führen, in dem das Publikum erfährt, dass eine Figur „schlecht“ ist, weil ihr (in der Vorgeschichte) als Kind das Plüschtier genommen wurde.

Geschichten ohne großes Zitieren der Vorgeschichte sind meist eleganter, der Leser/Zuschauer akzeptiert ohne Weiteres Figuren, ohne ihre Hintergrundgeschichte zu kennen. Oft ist ein gewisses Rätsel um ihre Herkunft ganz reizvoll und macht es einfacher, sich mit ihnen zu identifizieren. Ein sehr spezielles fiktionales Leben kann so weit von der Erfahrungswelt des Lesers/Zuschauers entfernt sein, dass dieser den Bezug verliert bzw. es schwerfällt, sich in die Lebenswelt der Figur hineinzuversetzen.

Backstory dient also nicht dazu, Resümees ganzer Leben zu bieten.

Es ist jedoch nur natürlich, dass ein Vorleben stattgefunden hat und Teile aus dieser Vergangenheit relevant für die aktuelle Situation sind.


Die Ausnahme zur Regel?

Vermeintlich haben einige Märchen wenig oder gar keine Vorgeschichte. Diese Erzählungen sind in sich so vollständig, dass es nicht notwendig ist, etwas über die Herkunft oder Vorgeschichte von zum Beispiel Rotkäppchen zu wissen, um die Erzählung zu verstehen. Sicher, sie hat eine Großmutter, es gibt einen Wolf im Wald, und wie ist der Holzfäller/Jäger dort gelandet? Aber im Wesentlichen gibt es keine Schlüsselereignisse in ihrer Vergangenheit, die irgendwann in der Erzählung eine bestimmte Wirkung haben.

Dennoch fällt es auch Märchen schwer, ohne Vorgeschichte auszukommen. Mit Hans und die Bohnenranke ist sie implizit darin, dass Hans nur einen Elternteil hat. Bei Hänsel und Gretel sind die Geldprobleme der Familie und insbesondere die Anwesenheit der Stiefmutter im Wesentlichen Vorgeschichte.


Vorgeschichte Organisieren

Diese „Versatzstücke” sinnvoll mit einzubinden, ist eine organisatorische Herausforderung für den Autor. Entweder arbeitet er mit Rückblicken (Flashbacks) – szenisch auftretenden Erinnerungsfetzen, die als eigenes Ereignis erscheinen. In der chronologischen Reihung der Handlungsereignisse sind diese Parts natürlich zeitlich wesentlich früher positioniert als der Akt des Erinnerns, wohingegen in narrativer Reihung der Moment des Erinnerns quasi als Rahmen fungiert, in welchen die erinnerten Momente eingebettet sind. Von dort aus wird der Leser/Zuschauer mit auf eine (kurze) Zeitreise genommen, um dann wieder an den Ausgangspunkt zurückzugelangen.

Es ist nicht ganz einfach, diesen Prozess auseinanderzudividieren bzw. der Autor muss hier genau wissen, wie sich die Ereignisse aufeinander beziehen. Manchmal ist die Backstory Teil der Prämisse der Geschichte, z. B. wenn die Erzählzeit als Präsenz angenommen wird und als narrativer Rahmen fungiert, eine aktuelle Situation als Rahmenhandlung dient.

Vorgeschichte in unterschiedlichen Medien

Es kann spannend sein, in die Gedanken und Erinnerungen eines Protagonisten einzutauchen. In einem Roman ist es nicht notwendig, ganze Szenen oder Ereignisse mit einzubinden, einem Teil aus der Vergangenheit gar ein ganzes Kapitel zu widmen. Der Autor hat hier die Freiheit, je nach Gusto mehr oder weniger Informationen hineinzupacken, als Gedankengang in Form von kurzen Exkursen, Absätzen, sogar nur einzelnen Sätzen.
In einem Film gibt es andere Darstellungsmittel: Der Zuschauer sieht die Erinnerung üblicherweise als Rückblende, also als eingefügte Flashback-Szene, oder erfährt von ihr in Form eines Berichts durch eine der Figuren im Dialog, einen vorgelesenen Tagebucheintrag, Brief o. ä. Ein gern genommenes Mittel ist die sogenannte Lagerfeuerszene oder auch ein Vorspann.

Im Theater ist die Darstellung der Backstory schwieriger, da man hier in den medialen Mitteln eingeschränkter ist. Ein klassisches Mittel ist hier der Prolog.

Ursache und Wirkung

Die Hintergrundgeschichte von Figuren hilft uns, ihre Psyche und Motivation zu verstehen, da so die Ursache bzw. der Grund für ihre Verhaltensweise und Taten klarer und bestenfalls verständlich wird.

So kann das Ungleichgewicht zwischen dem, was eine Figur will und dem, was diese Figur tatsächlich braucht, durch eine frühere Erfahrung erklärt werden, wie z. B. bei einem Trauma. Das Defizit, das ausgeglichen werden muss, ist eine Art kontraproduktiver Abwehrmechanismus. Die Figur muss das erkennen und für eine Veränderung sorgen.

Im wirklichen Leben sind die Dinge nicht so schön simpel. Wir können nicht immer die eigentlichen Beweggründe hinter den Aktionen der Leute erkennen – oft nicht mal unsere eigenen. Doch es beruhigt uns zu glauben, dass es Gründe gibt, zumindest halbwegs nachvollziehbare – was nicht heißen muss, dass sie uns gefallen.

Der Mensch hat ein natürliches Bedürfnis nach Erklärung – also nach Sinnfälligkeit. Das schließt das eigene Dasein mit ein, (natürliche) Vorgänge, Mechanismen, menschliche Verhaltensweisen, Entscheidungen etc. Wir wollen verstehen, wie und warum die Dinge passieren. Wir suchen immer nach dem Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung und schreiben Ereignissen und Phänomenen automatisch ein Agens, einen ursprünglichen Grund zu. Uns selbst und die Welt um uns herum nicht begreifen zu können, macht uns Angst, daher möchten wir lieber zumindest theoretisch in der Lage sein, alles verstehen zu können. Die Art und Weise, wie wir Geschichten aufnehmen und diese (weiter-) erzählen, reflektiert diese angenommene Voraussetzung.

Diese tiefere Funktion der Vorgeschichte verweist auf eine grundlegende Funktion von Geschichten allgemein: durch die strukturelle Ordnung der Ereignisse dem Lebenschaos einen Sinn verleihen.


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